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Freitag, 19. Juni 2015

Bei DDR-Schülern galt "Das siebte Kreuz" von Anna Seghers als ein ethisch-moralischer Maßstab


aus dem Bibliotheksbestand des DDR-Kabinett-Bochum e.V.

Mit ihrem Roman "Das sieb­te Kreuz", der zu­erst 1942 in einem me­xi­ka­ni­schen Exil­ver­lag er­schien, er­lang­te Anna Seg­hers Welt­ruhm.

Das Buch ge­hört zum un­ver­lier­ba­ren Erbe hu­ma­nis­ti­scher Welt­li­te­ra­tur und hat den Wi­der­stands­kämp­fern gegen fa­schis­ti­schen Ter­ror ein blei­ben­des Denk­mal ge­setzt. Mil­lio­nen­fach wirk­te die Ge­schich­te von der Flucht des Kom­mu­nis­ten Georg Heis­ler aus dem Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger West­ho­fen auf­klä­re­risch und er­mu­ti­gend auf junge und äl­te­re Leser. Die Schü­ler in der DDR haben "Das sieb­te Kreuz" im Deutsch­un­ter­richt be­han­delt. Über das Werk wurde dort leb­haft dis­ku­tiert, in ei­ni­gen Fäl­len be­ar­bei­te­te man es dra­ma­tur­gisch und führ­te es auf. 

Doch in der alten BRD blieb der Roman bis An­fang der 70er Jahre na­he­zu un­be­ach­tet - und dies, ob­wohl er be­reits 1944 in den USA ver­filmt und der Au­to­rin 1947 dafür in Darm­stadt der be­gehr­te Ge­org-Büch­ner-Preis zu­er­kannt wor­den war. Es lohnt sich, "Das sieb­te Kreuz" noch ein­mal oder auch zum ers­ten Mal zu lesen, sei­ner Ent­ste­hungs­ge­schich­te nach­zu­ge­hen, denk­wür­di­ge Orte und Schau­plät­ze auf­zu­su­chen. Sie fin­den sich in der Re­gi­on zwi­schen Frank­furt am Main, Mainz und Worms, aber auch in Ber­lin.
"Jedes Jahr ge­schah etwas Neues in die­sem Land und jedes Jahr das­sel­be: daß die Äpfel reif­ten und der Wein bei einer ver­ne­bel­ten Sonne und Mühen und Sor­gen der Men­schen", be­singt die Dich­te­rin im ers­ten Ka­pi­tel ihre Hei­mat­re­gi­on. Doch als Netty Rad­vanyi ge­bo­re­ne Rei­ling, die unter dem Künst­ler­pseud­onym Anna Seg­hers ver­öf­fent­lich­te, diese Zei­len um 1938 auf­schrieb, be­fand sie sich in Paris und un­er­reich­bar fern von rhei­ni­schen Obst- und Wein­gär­ten.

Schon 1933 hatte sie - als Jüdin, Kom­mu­nis­tin und un­ab­hän­gi­ge In­tel­lek­tu­el­le gleich mehr­fach stig­ma­ti­siert - Na­zi­deutsch­land ver­las­sen müs­sen. Da war sie be­reits seit 1928 im deutsch­spra­chi­gen Raum als Kleist-Preis­trä­ge­rin mit ihrer Er­zäh­lung "Auf­stand der Fi­scher von St. Bar­ba­ra" be­kannt. Ge­bo­ren und auf­ge­wach­sen war Netty Rei­ling in einem jü­disch-or­tho­dox ge­präg­ten, wohl­ha­ben­den und als li­be­ral ein­zu­ord­nen­den Main­zer El­tern­haus. Sie hatte sich je­doch schon als Stu­die­ren­de in Köln und Hei­del­berg nach geis­tig in­ten­si­ven, auch schmerz­haf­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen aus dem Her­kunfts­mi­lieu ge­löst und mar­xis­ti­schem Ide­en­gut zu­ge­wandt.
Die Ge­gend um Worms ist einer der Schau­plät­ze im "sieb­ten Kreuz". Hier, in Ost­ho­fen, hat­ten die Fa­schis­ten schon bald nach ihrem Macht­an­tritt im Mai 1933 ein frü­hes Kon­zen­tra­ti­ons­la­ger er­rich­tet, in dem Hun­der­te Kom­mu­nis­ten und So­zi­al­de­mo­kra­ten, aber auch Chris­ten und Juden ge­quält und ge­de­mü­tigt wur­den. Ein Jahr lang be­stand die­ses KZ, dann bau­ten die Fa­schis­ten nach dem "Pi­lot­pro­jekt" noch töd­li­che­re Lager. Weit­hin be­kannt und ge­fürch­tet war Ost­ho­fen, so wis­sen es noch immer alt­ein­ge­ses­se­ne Be­woh­ner der Re­gi­on. Seit sich ab 1978 über­le­ben­de ehe­ma­li­ge Häft­lin­ge, spä­ter auch en­ga­gier­te Ge­werk­schaf­ter und christ­li­che Frie­dens­freun­de für den Er­halt des Ge­bäu­des als Ge­denk­stät­te ein­setz­ten, nimmt sich auch das SPD-re­gier­te Rhein­land-Pfalz des Er­in­ne­rungs­or­tes an. Be­su­cher kön­nen sich dort in einer 2002 er­öff­ne­ten Dau­er­aus­stel­lung über das eins­ti­ge KZ in­for­mie­ren.
Wer sich der fach­kun­di­gen Füh­rung durch das Ge­län­de an­schließt, er­fährt: Nur einem Ge­fan­ge­nen ist die Flucht aus der Hölle Ost­ho­fen ge­lun­gen. Der da­mals 30jäh­ri­ge Max Tschor­ni­cki aus Rüs­sels­heim, seit Ju­gend­ta­gen in der so­zia­lis­ti­schen Ar­bei­ter­be­we­gung aktiv, war 1933 mit der ers­ten Ver­haf­tungs­wel­le dort­hin ge­kom­men. Über aben­teu­er­li­che Flucht­we­ge schaff­te er es ins Pa­ri­ser Exil. Dort traf er Anna Seg­hers und be­rich­te­te ihr. Bu­chen­au, Op­pen­heim, Mainz, Flöchst, Frank­furt-Nie­der­rad - Georg Heis­lers Flucht­weg ist nicht mit dem des Rüs­sels­hei­mer Ge­nos­sen iden­tisch, und aus Ost­ho­fen wird im Roman West­hofen. Doch aus Tschor­ni­ckis Er­leb­nis­be­rich­ten ge­winnt die Dich­te­rin ihren Stoff. In Paris - wäh­rend einer ihrer in­ten­sivs­ten, frucht­bars­ten Schaf­fens­pe­ri­oden - formt sie frei Fabel und Hand­lung. Die ge­naue Kennt­nis der Orte und ihrer Be­woh­ner, dazu das Flair der Land­schaft und die Er­in­ne­rung an das eins­ti­ge Zu­hau­se be­flü­geln die Schrei­ben­de.
Wohl auch wegen der das Werk durch­strö­men­den wahr­haf­ti­gen Liebe zur rhei­ni­schen Hei­mat ist dem Buch "Das sieb­te Kreuz" und sei­ner Au­to­rin in der Ost­ho­fe­ner Ge­denk­stät te ein ei­ge­ner Raum ge­wid­met. Für die Fa­mi­lie Rad­vanyi - Netty, ge­nannt Anna Seg­hers, und Ehe­mann Lasz­lo mit den Kin­dern Peter und Ruth - be­gann nach dem Über­fall Hit­ler­deutsch­lands auf Frank­reich ein Über­le­bens­kampf, der sie über Mar­seil­le, Me­xi­co City und New York nach Schwe­den führ­te.
Als Anna Seg­hers 1947 wie­der nach Deutsch­land kam, lagen 14 Jahre Emi­gra­ti­on hin­ter ihr. Trotz oft­mals wid­ri­ger Schaf­fens­be­din­gun­gen hatte sie meh­re­re ihrer wich­ti­gen Ar­bei­ten meis­ter­haft be­wäl­tigt. Kaum je­mand unter den Li­te­ra­ten ver­moch­te das Thema Ver­fol­gung, Flucht und Exil - brand­ak­tu­ell wie ehe­dem - so pa­ckend, rea­lis­tisch und en­ga­giert zu be­ar­bei­ten wie sie. 1950 fand Anna Seg­hers in der erst kurz zuvor ge­grün­de­ten DDR eine neue Hei­mat, für die sie fort­an ihre Kraft als künst­le­risch Schaf­fen­de, als Frie­dens­kämp­fe­rin und als lang­jäh­ri­ge Vor­sit­zen­de des Schrift­stel­ler­ver­ban­des ein­setz­te.
1981 - zwei Jahre vor ihrem Tod - wurde der be­deu­ten­den Li­te­ra­tin die Eh­ren­bür­ger­schaft ihrer Ge­burts­stadt Mainz ver­lie­hen, nach­dem ihr künst­le­ri­sches Werk zuvor von den in der BRD maß­geb­li­chen Ver­lags­lei­tun­gen und Kul­tur­po­li­ti­kern jahr­zehn­te­lang igno­riert wor­den war.
In der ihr wäh­rend des Zeit­raums von fast 30 Jah­ren als Ber­li­ner Heim- und Ar­beits­stät­te die­nen­den Woh­nung in der Ad­lers­ho­fer Volks­wohl­stra­ße 81, jetzt An­na-Seg­hers-Stra­ße, be­fin­det sich heute eine öf­fent­lich zu­gäng­li­che Samm­lung wich­ti­ger Ma­te­ria­li­en über Leben und Schaf­fen der Schrift­stel­le­rin. Die An­na-Seg­hers-Ge­sell­schaft Ber­lin und Mainz e. V. hat hier ihren Sitz.
Sie or­ga­ni­siert Vor­trä­ge, Ge­sprächs­fo­ren oder Le­sun­gen, so von Trä­gern des An­na-Seg­hers-Li­te­ra­tur­prei­ses. Er wird - dem Tes­ta­ment der Dich­te­rin ent­spre­chend - all­jähr­lich an junge fort­schritt­li­che Au­to­ren aus Ent­wick­lungs­län­dern ver­lie­hen.
Ma­ri­an­ne Walz



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