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Mittwoch, 5. Oktober 2011

Ronald M. Schernikau....oder die Sehnsucht nach der DDR

Ronald M. Schernikau (* 11. Juli 1960 in Magdeburg;
† 20. Oktober 1991 in Berlin)



Nach der Übersiedlung seiner Mutter aus der DDR nach Westdeutschland 1966 wuchs Ronald M. Schernikau in Lehrte bei Hannover auf. 1976 wurde er Mitglied in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP). Noch vor seinem Abitur am Lehrter Gymnasium erschien 1980 die Kleinstadtnovelle im Rotbuch Verlag. Das Buch über schwules Coming Out in einer Kleinstadt wurde ein erster bemerkenswerter Erfolg, die Erstauflage war nach wenigen Tagen vergriffen. Im selben Jahr zog Schernikau nach West-Berlin, wo er Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW)  wurde und an der FU Germanistik, Philosophie und Psychologie studierte. Er trat als Tuntendiva auf und arbeitete mit dem Ensemble »ladies neid«.
Von 1986 bis 1989 studierte Ronald M. Schernikau am Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ in Leipzig. 1988 nahm er an einem Aufbaustudiengang teil. Im Mai 1988 legte er seine Abschlussarbeit vor, die er später unter dem Titel die tage in l. veröffentlichte.
Ebenfalls in diese Zeit fällt der größere Teil des Briefwechsels mit Peter Hacks, zu dem Schernikau bereits von West-Berlin aus Kontakt aufgenommen hatte. Schernikau stellte Hacks darin die Frage, ob er in die DDR übersiedeln solle. Dieser antwortet ihm, dass, wenn er ein großer Dichter werden wolle, er keine andere Wahl habe, als in die DDR zu kommen.
Noch 1989 erwarb Ronald M. Schernikau die Staatsbürgerschaft der DDR und siedelte dann am 1. September 1989 nach Berlin-Hellersdorf über, wo er als Hörspieldramaturg des Henschel-Verlages lebte. Auf dem Kongress des Schriftstellerverbands der DDR vom 1. bis 3. März 1990 hielt er eine vielbeachtete Rede, die wir nachfolgend dokumentieren.
1991 vollendete er seinen umfangreichen Montageroman legende.
Ronald M. Schernikau starb am 20. Oktober 1991. Er liegt begraben auf dem Friedhof der St. Georgen-Gemeinde in Berlin-Friedrichshain.


Aus der Rede von Ronald M. Schernikau auf dem letzten Schriftstellerkongreß der DDR Anfang März 1990

Zurückweichen und Selbstvernichtung
Ich bin Ronald M. Schernikau, komme aus Westberlin, bin seit dem
1. September 1989 DDR-Bürger, habe drei Bücher veröffentlich und bin Kommunist.
Die Dummheit von Kommunisten halte ich für kein Argument gegen den Kommunismus. Der Sieg des Feindes versetzt mich nicht in Traurigkeit, eine Niederlage ist eine Niederlage, das sind Angelegenheiten bloß eines Jahrhunderts. Was mich verblüfft, ist die vollkommene Wehrlosigkeit, mit der dem Westen Einlaß gewährt wird, das einverständige, ganz selbstverständliche Zurückweichen, die Selbstvernichtung der Kommunisten. Ich habe jeglichen Glauben verloren heißt doch: Ich bin bereit, mich dem Westen vollkommen zu überlassen.
Kaum ist Honecker gestürzt, da lösen die Universitäten den Marxismus auf, da wirbt die DEWAG für David Bowie (immerhin), da druckt die "FF dabei" Horoskope, und die Schriftsteller gründen Beratungsstellen für Leser oder gleich eine SPD. Wo haben sie ihre Geschichtsbücher gelassen? Die Kommunisten verschenken ihre Verlage, die ungarische Regierung richtet in ihrem Land einen Radiosender der CIA ein, und der Schriftstellerverband der DDR protestiert gegen die Subventionen, die er vom Staat erhält. Sie sind allesamt verrückt geworden.
Die DDR hat den Beweis erbracht, daß die Zeitungsredakteure, wenn man sie nur läßt, nicht klügere Zeitungen machen, sondern dümmere. Früher stand in den Zeitungen gar nichts, heute steht das Falsche drin; die Welt handelt absurd, wenn sie uns vor solch furchtbare Wahl stellt, aber wenn ich es muß, wähle ich den ersten Zustand.
Die DDR hat sich wehrlos gemacht, systematisch, mit offenen Augen. Endlich können wir auch die Erfahrungen der Linken im Westen verwerten! Das heißt: Wir werden sie bitter nötig haben, wer die Gewerkschaft fordert, wird den Unternehmerverband kriegen. Wer den Videorekorder will, wird die Videofilme kriegen, wer die Buntheit des Westens will, wird die Verzweiflung des Westens kriegen, wer Bananen essen will, muß Schwarze verhungern lassen, wer die Spaltung Europas überwinden will, muß den Westen siegen lassen.
Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, das der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt. Was Sie vorerst begriffen haben: Der Westen ist stark. Sie haben, statt das gute Geschäft ihrer schlechten Regierung zu fördern, die Feinde der Regierung ins Land geholt.
Die Strategie des Zurückrollens ist aufgegangen. Der Westen hat gesiegt. Er hat gesiegt, weil seine Herrschaftsformen sozialdemokratisch geworden sind. Die spätkapitalistische Ökonomie braucht für ihre Existenz keine Rechtfertigung mehr, ihre Mechanismen setzen sich durch, ob wir wollen oder nicht. Wie anachronistisch wirkt ein Zentralkomitee gegen die Weltbank, wie einzig sinnvoll aber auch.
Am 9. November 1989 hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, daß man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.
Vielen Dank.


Ronald M. Schernikau - Leben und Werk


Aktuelle Buchempfehlung:

Ronald M. Schernikau

Irene Binz. Befragung

 ISBN 978-3-86789-095-3 , 224 Seiten, Preis 16,95 €

Das intensive Gespräch zwischen Mutter und Sohn fördert Bewegendes zutage: das Aufwachsen in der DDR, die Umstände der Flucht nach Westdeutschland aus Liebe zum Vater des gemeinsamen Kindes, die Demütigung, als sie erfährt, dass dieser dort heimlich eine andere geheiratet hat, das Misstrauen ihr, der Genossin, gegenüber - Irene Binz, literarisches Alter Ego von Ellen Schernikau, geht weiter ihren Weg und fühlt doch schmerzhaft die Leerstelle der fehlenden Heimat. Dieses Buch ist das berührende Porträt einer ungewöhnlichen, starken Frau, die ihren Überzeugungen treu geblieben ist. Frappierend in seiner Einzigartigkeit, ist es doch auf seine Art exemplarisch für den verkrampften Umgang der beiden deutschen Staaten miteinander - und dessen Konsequenzen bis heute.

Rotbuch

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