Foto-, Video - und Musik Seiten - Blog-Impressum

Montag, 6. Februar 2012

„Entweder die Menschheit wird vom Kapitalismus in den Abgrund geführt, oder sie überwindet ihn“


Geleitwort zur Neuauflage der „Moabiter Notizen“


Ich bin vielleicht nicht die Einzige,die erfreut darüber ist, dass Erich Honecker mit dieser Neuauflage der „Moabiter Notizen“ noch einmal zu Wort kommt. Und das während der so widersprüchlichen Debatte über das politische Geschehen in Deutschland seit den umwälzenden Ereignissen im Europa der 80er Jahre. Er hatte es damals nicht leicht, zu Wort zu kommen. Seine selbstkritischen Stellungnahmen an das Zentralkomitee in den stürmischen Tagen des Jahres 1989, in denen er die Hoffnung und Sorge über die eingetretene Entwicklung zum Ausdruck brachte, wurden nicht bekannt. So hatte er am 1. Dezember 1989 an das ZK der SED geschrieben, dass er die Hoffnung besäße, man werde den richtigen Weg einschlagen, „aber zunehmend Zweifel habe, ob der Prozess der Erneuerung in die richtige Richtung läuft“, denn: „Ich habe den Eindruck, dass Kräfte wirksam werden, die einen regelrechten Vernichtungsfeldzug gegen unsere Partei, gegen unseren souveränen Staat, gegen die Volkpolizei und die anderen Sicherheitsorgane führen.“ Diese Entwicklung haben Zehntausende ehrliche Bürger der DDR auf ihren Schultern tragen müssen, und sie tragen daran noch heute. Die Hetze steigerte sich in der Folgezeit und führte zu den unsäglichen Prozessen gegen unsere Grenzsoldaten und gegen führende Genossen. Tragisch ist, dass die von den gegnerischen Kräften initiierte Hetzkampagne, die sich gegen die Partei richtete, von einigen Genossen übernommen und gegen die eigenen Genossen geführt wurde. Das mündete schließlich in den Parteitag der PDS, über den er schrieb: „Wenn später die PDS in ihrem Beschlussentwurf zum Parteitag einen Passus hatte „Ãœber die Verbrechen der SED“, so kann man dem zustimmen, wenn man es auf die Inhaftierung der Mitglieder des Politbüros, alter erfahrener Widerstandskämpfer gegen den Faschismus, von Bezirks- und Kreissekretären der Partei und Mitarbeitern des Staatsapparats bezieht. Die Kriminalisierung aus den eigenen Reihen führte zu einer weitgehenden Entsolidarisierung, die es den reaktionären Kräften der BRD erleichterte, ihren umfassenden Rachefeldzug gegen Kommunisten und andere Linke zu führen.“ Zu gern hätten sie Honecker auch angedichtet, 1989 mit Waffen gegen Demonstranten vorgegangen zu ein, so wie das im kapitalistischen Deutschland von jeher üblich war.Wahr ist, was ein so kompetenter Mann wie der ehemalige NVA-Stabschef Fritz Streletz am 24. Oktober 2009 in einer Rede beim Grenzertreffen in Petershagen-Eggersdorf noch einmal exakt schilderte: „Egon Krenz und ich haben am 13. Oktober 1989 nach der Beratung mit der Bezirkseinsatzleitung in Leipzig gegen 17.00 Uhr Erich Honecker den Befehl Nr. 9/89 vorgelegt. Nach der Unterzeichnung meldete ich Honecker, dass der Minister für Nationale Verteidigung befohlen habe, in der jetzigen politischen Situation keine größeren Truppenbewegungen und Truppenübungen der NVA durchzuführen.“ Und weiter führte Generaloberst a. D. Streletz aus: „Erich Honecker beauftragte mich, den Oberkommandierenden der Gruppe, Armeegeneral Boris Snetkow, zu bitten, nach Möglichkeit in den kommenden Tagen und Wochen keine größeren Truppenübungen (der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte – d. Verl.) durchzuführen.“ Also: Erich Honecker hatte jenen Befehl Nr. 9/89, der jeden Waffeneinsatz ausschloss, nicht nur gekannt, sondern ihn sogar unterzeichnet. (s. auch ARD-Interview in Moskau Sommer 1991, im Buch auf S. 109 – d. Verl.) Die Bonner Justiz war bemüht, die zwischen den beiden souveränen Staaten gezogene Grenze als rechtmäßig in Frage zu stellen. Ihr fragwürdiges Vorgehen bemäntelte sie damit, der DDR einen »Schießbefehl« zu unterstellen, den es niemals gab.Standhaft klagten Erich Honecker und seine Genossen Kessler und Streletz im so genannten Honecker-Prozess jene an, die ihre historische Schuld an der Spaltung Deutschlands leugnen wollten, die sich anmaßten, sich als Richter über die Geschichte aufzuspielen. 
Warum ich das im Zusammenhang mit der Neuauflage der „Moabiter Notizen“ erwähne? Ich glaube, es ist ein Akt der Gerechtigkeit, dass man dem Politiker, welchem man – natürlich zu Recht – eine große Verantwortung für den Verlauf der politischen Entwicklung zuschreibt, auch selbst hören sollte. Erich Honecker machte seine „Notizen“ 1992 in Moabit, seine Schrift war schon nicht mehr gut leserlich. Er schrieb die letzten Zeilen hier in Chile mit der Schreibmaschine selbst und diktierte mir Passagen aufs Tonband. Der Verlag stellte dem Buch bei der Erstveröffentlichung die Bemerkung voran, dass seine Sicht der Dinge „sehr subjektiv“ sei. Sicher, es war seine persönliche Sicht, aber die politische Entwicklung in den letzten 20 Jahren dürfte eine Bestätigung der objektiven Sicht sein, die E. H. schon Anfang der 90er Jahre hatte. Erich stellte sich mit seiner Ãœberzeugung gegen den Zeitgeist, der damals zu wuchern begann. Gegen jenen Ungeist, der auch heute noch herrscht, dem sich aber nun schon viele – wenn auch noch zu wenige – offensiv entgegen-stellen. Seine Haltung war klar und eindeutig, wenngleich sie damals von einer Mehrheit nicht geteilt wurde. So schrieb er in seinem Vorwort: „Man wird von mir keine Zeile finden, die der kapitalistischen Ausbeuter-gesellschaft, deren Ideologie und „Moral“ Zugeständnisse macht.“ Und weiter: „Sollten diese Zeilen jemals veröffentlicht werden, dann für jene, die es mit der Analyse der Vergangenheit ernst meinen, im Gegensatz zu den so genannten Geschichtsbewältigern, denen es einzig und allein um die Hetze gegen den Sozialismus geht, um den unausweichlichen Niedergang des Kapitalismus noch möglichst weit hinauszuschieben.“ Das könnte heute geschrieben sein. Ich glaube auch, dass heute immer mehr Menschen seine damalige Einschätzung als nur zu wahr erkennen, dass nämlich „die Folgen des Untergangs der Sowjetunion in ihrem vollen Ausmaß noch nicht erfassbar waren, dass sich für die Imperialisten neue Möglichkeiten der Expansion und der Profit-maximierung eröffneten, für die Menschheit jedoch Unsicherheit, Kriege, ansteigende Arbeitslosigkeit, eine Völkerwanderung von Ost nach West und vieles andere mehr“.
Erich Honecker sah den Ernst der entstandenen Lage. Aber er war alles andere als pessimistisch. Er sah, dass der Kapitalismus sich in „einem Knäuel von Widersprüchen verwickelt hat, die zu einer Lösung drängen“. Wie wahr ist es, dass „der Kinderglaube, der Markt wird es schon richten“, kein Problem der Menschheit löst. Deshalb schlussfolgerte er, dass die sozialen Probleme und der Kampf gegen Krieg auf der Tagesordnung bleiben werden. Erich Honecker redete nicht denen das Wort, die den Kapitalismus nur reformieren wollten. Er ging davon aus, dass unausweichlich neue gesellschaftliche Kräfte auf den Plan treten werden, die neue gesellschaftliche Verhältnisse erstreiten. Und er kam zu dem Schluss, den Marxisten von jeher vertreten: „Entweder die Menschheit wird vom Kapitalismus in den Abgrund geführt, oder sie überwindet ihn. Letzteres ist wohl wahrscheinlicher und realer, denn die Völker wollen leben.“ Ich hoffe, dass der unvoreingenommene Leser in den „Moabiter Notizen“, von deren Veröffentlichung Erich Honecker zwei Tage vor seinem Tode noch erfuhr, Antworten auf manche ihn bewegende Frage finden wird. Ob mit Zustimmung oder mit entgegenstehender Meinung – das ist wohl abhängig vom jeweiligen politischen Standpunkt. 

Margot Honecker
Santiago de Chile, Herbst 2009


Edition Ost
Erich Honecker - Moabiter Notizen
Letztes schriftliches Zeugnis und
Gesprächsprotokolle vom BRDBesuch
1987 aus dem persönlichen
Besitz Erich Honeckers
ISBN 978-3-360-01812-0, 256 Seiten


Edition Ost

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Durch Absenden des Kommentars erkläre ich mich einverstanden, dass meine eingegebenen Daten elektronisch gespeichert und zum Zweck der Kontaktaufnahme verarbeitet und genutzt werden. Mir ist bekannt, dass ich meine Einwilligung jederzeit widerrufen kann. Der weitergehende Datenschutzhinweis für Kommentare befindet sich im Impressum.