2. Das Märchen von der „innerdeutschen“ Grenze und seine Funktion
Das Gerede von der „innerdeutschen“ oder auch „deutsch-deutschen“ Grenze, auf Berlin bezogen die „innerdeutsche Sektorengrenze“, und die damit zum Ausdruck kommende Missachtung der politischen und militärischen Realität während des Kalten Krieges bildet einen wichtigen Stützpfeiler der permanenten Hetze gegen das Grenzsicherungssystem der DDR und war ein grundlegendes "Argument" für die widerrechtliche politische Strafverfolgung gegen ehemalige Angehörige der NVA und der Grenztruppen. Auch heute gehört die irreführende Bezeichnung „innerdeutsche“ Grenze zum wichtigen Repertoire der Politiker und Medien, die auf die Unkenntnis gutgläubiger Menschen spekulieren. Dabei handelt es sich um eine Konstruktion,
die an die Hallstein-Doktrin anknüpft. Der von der BRD nie vollständig aufgegebene
Alleinvertretungsanspruch, die Nichtanerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft und das
1973 vom Bundesverfassungsgericht gefällte Urteil, wonach die Staatsgrenze der DDR zur BRD und zu Westberlin eine innerdeutsche Verwaltungsgrenze wie zwischen zwei Bundesländern der BRD sei, stützen dieses widersinnige Gerede. In Wahrheit handelte es sich, wie bereits betont, um die Hauptkonfrontationslinie der beiden sich unversöhnlich gegenüberstehenden Gesellschaftssysteme im Kalten Krieg und um die vordere Linie der Verteidigung des Warschauer Paktes. Niemals in der Geschichte der Menschheit und nirgendwo in der Welt standen sich stärkere militärische Potenziale in Feindschaft gegenüber wie an dieser Grenze. Eine militärische Ost-West-Auseinander-setzung wurde in den Jahren des Kalten Krieges, zumindest bis in die Mitte der achtziger Jahre, von den politischen und militärischen Führungen beider Seiten für möglich gehalten. Deshalb arbeiteten auf beiden Seiten der Grenze rund um die Uhr alle Bereiche der militärischen Aufklärung. So hatten beispielsweise im Bereich des
DDR-Grenzkommandos SÜD in den 80er Jahren das 11. und 14. Panzeraufklärungs-regiment der 7. US-Feldarmee ständig Kräfte unmittelbar an der Grenzlinie im Einsatz. Jährlich wurden allein in diesem Bereich ca. 20.000 US-Soldaten in ihre Handlungsräume eingewiesen. Es gehörte schon zur militärischen Routine, dass die Kommandeure von neu in Grenznähe dislozierten Verbänden und Truppenteilen der Sowjet-Armee und der US-Armee vor Ort mit ihren Einsatzräumen und Handlungs-richtungen bei möglichen militärischen Konflikten vertraut gemacht wurden. Auch die Tatsache, dass in den Jahren des Kalten Krieges die militärische Luftaufklärung an der Nahtstelle zwischen beiden Militärblöcken außerordentlich intensiv war und deshalb das Grenzgebiet zwischen der DDR und der BRD das weltweit meistfotografierte
Gebiet war, gibt die Zweckkonstruktion „innerdeutsche“ Grenze der Lächerlichkeit
preis. Das war die Lage, in der die Grenztruppen der DDR die komplizierte Aufgabe hatten, mögliche Zwischenfälle und Konflikte an der Grenze nicht entstehen bzw. sich nicht ausweiten zu lassen und sie damit unterhalb der Einsatzschwelle von Kampf-einheiten der Paktstaaten zu halten. Eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe, die sie trotz oft außerordentlich schwieriger Bedingungen jahrzehntelang in Ehren erfüllt haben! Das war sicher auch der Grund dafür, dass im Prozess gegen vier Mitglieder der ehemaligen Führung des Grenzkommandos SÜD vor dem Erfurter Landgericht der Anwalt eines der Angeklagten erklärte: „Ich verneige mein Haupt vor den hier angeklagten Männern, weil ich von dem Frieden profitiert habe, den ich diesen Männern verdanke.“ Die anderen Anwälte schlossen sich dieser beachtenswerten Erklärung ihres Berufskollegen an, der sich wie sie von Berufs wegen besonders intensiv mit den Motiven, der persönlichen Haltung und den militärischen Handlungen der Angeklagten, der Lage an der Grenze und den Anklagepunkten der Staatsan-waltschaft beschäftigt hatte. Auch Egon Bahr erklärte in seinem Interview in junge Welt vom 1. August 1996: „Die Kompetenzen der drei Westmächte endeten an den Westsektoren. Oder noch anders gesagt: Da war eine Grenze! Eine richtige Grenze! (...) Es konnte überhaupt gar keinen Zweifel sein, dass die Grenze zwischen Ost und West mitten durch Deutschland, mitten durch eine Stadt geht und auf der anderen Seite das andere Lager ist, mit dem man sich im Krieg befand. Das war ein Kalter Krieg, aber es war ein Krieg!“ Niemand wird angesichts dieser Lage ernsthaft behaupten wollen, der Bundesregierung, dem Bundesverfassungsgericht, dem Bundes-gerichtshof und den politischen Strafgerichten in Prozessen im Zusammenhang mit dem DDR-Grenzregime seien Charakter und Bedeutung dieser Grenze für den Frieden in Europa unbekannt gewesen. Wenn sie alle dennoch in trauter Übereinstimmung
an der aus politischen Erwägungen erfundenen Zweckkonstruktion „innerdeutsche“
Grenze festhielten (und noch heute festhalten), dann deshalb, weil dieser Konstruktion eine ganz bestimmte Funktion zugedacht war (und weiterhin ist): Sie soll die Behauptung stützen, die militärische Sicherung dieser Grenze durch die Grenztruppen der DDR und die Anwendung der Schusswaffe seien unrechtmäßig gewesen und deshalb strafbar. Wenn man davon ausgeht, dass es in den 80er Jahren allein im Bereich des Grenzkommandos SÜD jährlich bis zu sieben Anschläge auf Grenzsicherungsanlagen, zwölf Luftraumverletzungen aus Richtung BRD und in ca. 1000 Fällen provokatorische Handlungen gab, dann lässt sich daraus leicht schließen, wie angespannt die Lage an der gesamten Länge der Staatsgrenze der DDR war und welchen Provokationen die Angehörigen der Grenztruppen täglich ausgesetzt waren. Den jungen Grenzsoldaten der DDR stand ein erfahrener und sehr oft auch
verschlagener Gegner gegenüber, einer, der je nach Bedarf verschiedene Gesichter hatte. Der bald harmlos und jovial dem „Kameraden“ auf der anderen Seite der Grenze einen Gruß hinüber rief, der ihn ein anderes Mal unflätig beleidigte und wieder ein anderes Mal mit lauerndem Grinsen versuchte, ihn zur Fahnenflucht zu überreden. Wurde auf wiederholte Kontaktversuche nicht reagiert, folgten rüde Beschimpfungen und schlimmste Drohungen. „Kommunistenschweine“ oder „Russenknechte“, die in Kürze umgelegt oder gehängt würden, waren weit verbreitete „Grüße“ von jenseits der Grenze, die nicht selten durch provokatorische Zielübungen mit der Schusswaffe ergänzt wurden. Es war ein Gegner, der vor massenweise herangeholten „Grenz-landfahrern“ aufputschende Reden hielt, die oft genug in gefährliche Anschläge
auf Grenz- und Sicherungsanlagen gipfelten. Alles mit der Absicht, herauszufordern,
zu erkunden, wie weit man gehen kann, was die DDR-Grenzer sich alles bieten lassen (müssen). Provokationen und Unruhe sollten im Grenzgebiet etwas Alltägliches sein, um die Wachsamkeit der DDR-Grenzer einzuschläfern und etwaigen Spielraum für noch weitergehende Provokationen zu haben. Dazu gehörte, dass Angehörige des Bundes-grenzschutzes (BGS), der Bayrischen Grenzpolizei, des Zollgrenzdienstes und der Westberliner Polizei diesen Störaktionen oft Schützenhilfe leisteten, und dazu gehörte ferner, dass BGS-Angehörige gemeinsam mit Angehörigen von NATO-Armeen an der Grenze so agierten, als sondierten sie bereits das Terrain für künftige Aktionen. Das alles verlangte von den Angehörigen der Grenztruppen ständig hohe Wachsamkeit, gepaart mit Gelassenheit und dem festen Willen, sich auf keinen Fall provozieren zu lassen. Einige ergänzende Fakten:
- 1958 wurden vom Gebiet der BRD aus 804 Provokationen gegen die Grenze der DDR
und die Grenzsicherungskräfte verübt.
- 1959 waren es in den ersten drei Quartalen bereits 1.425 Fälle, darunter die schwerwiegende Provokation vom 21. August, als motorisierte Kräfte des BGS bei Klettenberg in das Gebiet der DDR eindrangen und Grenzsicherungsanlagen zerstörten.
- Am 12. März 1960 legten zwei westdeutsche Zöllner unmittelbar an der Staatsgrenze
bei Ahrenshausen, Kreis Heiligenstadt, Brände, die Grenzmarkierungen vernichteten.
- Am 22. März 1960 versuchte das BRD-Zollboot „Lave“ auf der Elbe bei Kilometer
491, ein Boot der DDR-Grenzpolizei zu rammen.
- Am 23. März 1960 fuhren BGS-Angehörige im Abschnitt Schlagbrücke bei Schönberg
mit einem Jeep bis an die Grenze und schossen mit einer Maschinenpistole über
die Staatsgrenze in Richtung DDR.
- n einigen Fällen gelang es, in den Bereichen der Grenzpolizeibereitschaften Schönberg, Eisenach, Dermbach und Meiningen, die auf DDR-Territorium vorgedrungenen Provokateure festzunehmen.
- 1960 gab es allein im ersten Quartal über 500 Provokationen.
- Nach dem 13. August 1961 verstärkten sich die Anschläge und Provokationen. Zwischen dem 13. August 1961 und dem 13. August 1963 registrierten die DDR-Grenztruppen 2.154 provokatorische Handlungen. Es gab 27 Sprengstoffanschläge,
Tunnelbauten, Schleusungen und Angriffe auf Grenzposten.
Bei allen Strafprozessen gegen DDR-Grenzer stand immer unbeantwortet die Frage im Raum: Welche Verantwortung trägt eigentlich die andere Seite? Wer zieht die von Gegenüber zur Rechenschaft? Auf beiden Seiten der Grenze galt: Wer nach Berlin kommt, geht an die Front. Die Amerikaner dekorierten alle ihre „Berliner“ mit Kampforden. Mit voller Kriegsmontur keuchten sie die Grenze entlang. Westlich der „Linie“ Höhe Berlin-Rosenthal absolvierten die Franzosen regelmäßig Zielübungen auf DDR-Grenzposten. 1982, an einem Sommertag, richtete ein französischer Panzer seine Kanone auf den Wachturm an der Chausseestraße. Einer der jungen Posten verlor die Kontrolle über seinen Körper und entleerte sich wie ein Kleinkind.
Diese Front machte Angst: vor den Steinen, die täglich geworfen wurden, vor den
Schreckschusspistolen, den Feuerwerksraketen, irgendwo in der Nähe abgeschossen. Einmal war es sogar eine Panzerfaust! Stellvertretend für die Tötungsverbrechen an DDR-Grenzsoldaten und für die Rolle, die die bundesdeutsche Justiz bei ihrer Aufklärung und Ahndung spielte, sei nur auf einen Fall näher eingegangen: Am frühen Abend des 18. Juni 1962 befand sich Gefreiter Reinhold Huhn, zwanzig Jahre alt, Melker, gegenüber dem Springer-Hochhaus im Grenzdienst, als ihm ein Mann in Begleitung von zwei Frauen und einem Kind auffiel. „Als der Gefreite die Personalien
prüfen wollte, griff der Mann“, so die Spitzenmeldung der Grenztruppen (‚Vertrauliche
Verschlusssache, VVS-Tagebuch-Nr.: 3557/62’) über dieses Ereignis, „in die Innentasche seiner Jacke. Kurz darauf fiel ein Schuss, und Genosse Huhn fiel zu Boden.“ Die Personengruppe, von anderen Grenzern daraufhin unter Feuer genommen, floh in das Haus Zimmermannstraße 56 - und von dort durch einen Kellerraum und einen vorgetriebenen Tunnel unter der Mauer hindurch, direkt auf das Grundstück des Springer-Verlages. Der Verleger Axel Springer selbst hatte dem Mörder Rudolf Müller, einem ehemaligen DDR-Bürger, die Genehmigung erteilt, von seinem Grundstück aus, im Schutze einer Baracke, diesen Tunnel zu graben. Nach dem Mord und gelungener Flucht, die im Springer-Hochhaus mit Whisky und auf einer Pressekonferenz gefeiert wurde, erzählte Müller freimütig, er habe nur einmal abzudrücken brauchen: „Der Mann fiel sofort um.“ Dennoch verbreitete der Westberliner Senat, gedeckt von den Amerikanern die ungeheuerliche Meldung, Huhn sei „im Kugelhagel der eigenen Genossen umgekommen“. Eine der unzähligen Verleumdungen der DDR und ihrer
Grenztruppen im eskalierenden Kalten Krieg. Briten und Franzosen dagegen glaubten der Darstellung der DDR, billigten dem Mörder aber Notwehr zu. Dieser wurde wenig später samt Familie nach Westdeutschland expediert. Für die Angehörigen der Grenztruppen kam das Gefährliche immer aus dem Westen. Sie standen dem wehrlos gegenüber. Es war strikt untersagt, in Richtung Westen zu drohen, zu zielen, erst recht zu schießen. Drüben wusste man um die Wehrlosigkeit, eine über Jahre gesammelte Erfahrung. Die ständige Erniedrigung machte wütend, gebar Hass. Vor allem war da die Angst. Es nutzt einer ehrlichen Aufarbeitung von Geschichte nichts, wenn der Eindruck erweckt wird, das Motiv aller Grenzverletzer sei gewesen, den unerträglichen politischen Verhältnissen in der DDR zu entfliehen, um damit
jeden zu Tode Gekommenen zu einem politischen Märtyrer zu machen. Das hat vor allem die Springer-Presse jahrzehntelang mit so gut wie allen Mitteln versucht. Sie feierte jeden Grenzverletzer, auch wenn es sich um einen in der DDR gesuchten Gewaltverbrecher handelte, und jeden Provokateur als Helden. Jeden Schuss an der Grenze nutzte sie, um den Kalten Krieg weiter anzuheizen. Eine der schwersten Provokationen ereignete sich am 18. Oktober 1966 an der Elbe nahe Gorleben. Sie war ein typischer Fall im Kalten Krieg und nur zu verstehen vor dem Hintergrund des bis 1989 nicht entschiedenen Streites um den Grenzverlauf an der Elbe. Die BRD und die für diesen Abschnitt zuständige britische Besatzungsmacht beharrten darauf, dass die Grenze am Ostufer verlaufe. Die DDR und die sowjetische Besatzungsmacht dagegen blieben bei ihrem Standpunkt, die Demarkationslinie verlaufe in der Mitte des Flusses.
Die DDR hatte Tage zuvor die Genehmigung für eine Peilfahrt des Schiffes „Kugelbake“ zurückgezogen, nachdem der Westen Vermessungsarbeiten des DDR-Bootes „Lenzen“ verhindert hatte. Versuche der „Kugelbake“-Besatzung, dennoch die Flussmitte zu überqueren, beantworteten die DDR-Grenztruppen, indem sie mit Patrouillenbooten eine Sperrkette bildeten. Dem Drängen aus Bonn, diese Kette der kleinen hölzernen DDR-Boote mit ihrem stabilen Schiff zu durchbrechen, gab die zivile Besatzung der „Kugelbake“ aber nicht nach. In Vorbereitung einer militärischen Operation wurde sie daraufhin gegen Beamte des Bundesgrenzschutzes von der Ostsee-Küstenwache ausgetauscht. Mit Genehmigung des damaligen Kabinetts Ludwig Ehrhardt und der britischen Besatzungsmacht begann am 18. Oktober 1966 die friedensgefährdende Operation. Mit Sturm- und Zollbooten versuchte ein BSG-Kommando, die Kette der DDR-Boote zu durchbrechen. Hubschrauber kamen zum Einsatz. Auf dem Westufer standen Panzer der 7. Brigade der britischen Rheinarmee, um notfalls Feuerschutz
zu geben. Außer einigen kleineren Kollisionen passierte nichts. Die Angehörigen der DDR Grenztruppen hatten die Nerven behalten. Der britische Generalmajor Mike Strickland, der bei diesem schweren Zwischenfall anwesend war, meinte später, das „hätte leicht einen dritten Weltkrieg auslösen können.“ (junge Welt, 31. Januar 1997)
Hans Fricke, Rostock
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