Der DDR Pädagoge und Bildungspolitiker Horst Adam zieht in seinem Aufsatz ein Resumee der DDR Bildungspolitik. Der Artikel wurde in der Oktoberausgabe der Zeitschrift RotFuchs 2010 erstveröffentlicht.
Im Laufe meines Lebens und Wirkens als Pädagoge habe ich die Etappen eines Lehrers, Fachberaters, Forschers, Stellvertretenden Chefredakteurs der Zeitschrift „Pädagogik", Hochschuldozenten und Bildungspolitikers durchlaufen.Ich wurde ganz wesentlich durch meine Erfahrungen in der DDR geprägt.
Seit 20 Jahren sehen wir uns mehr denn je mit massiven Angriffen konservativer Kräfte und bürgerlicher Medien gegen die DDR und deren Leistungen konfrontiert. Zwei Jahrzehnte nach ihrem staatlichen Ende steht das DDR-Bildungswesen nach wie vor im Mittelpunkt der Delegitimierungs-kampagne. Die von der DDR auf diesem Gebiet vollbrachten Leistungen werden durch die derzeit in der BRD Herrschenden diffamiert oder ignoriert. Damit tritt man die Lebensleistungen von Millionen DDR-Bürgern mit Füßen. Eine sachliche Auseinandersetzung und kritisch-ausgewogene Wertung scheinen unerwünscht zu sein. Um so mehr halte ich es für erforderlich und nützlich, daß jene, welche die DDR selbst erlebt haben, ihre Sicht und ihre Erfahrungen einbringen, um das Feld nicht „Fremdbeurteilern" zu überlassen. Es ist grotesk, wenn Leistungsschwache hochmütig auf Leistungsstarke „herabblicken". Als Lehrer und Erziehungswissenschaftler möchte ich einige Gedanken zur Reflektion meines Tätigkeitsbereichs äußern. Dabei erscheint es mir wichtig, jeder besserwisserischen, pauschalen, ideologisch abwertenden Sichtweise entgegenzutreten.
Brechung von Bildungsprivilegien
Eine seriöse Analyse kann nur unter Berücksichtigung der jeweiligen konkrethistorischen Situation in den einzelnen Entwicklungsetappen des sozialistischen Bildungswesens der DDR erfolgen. Wenn diesem heute von bestimmter Seite vorgeworfen wird, es habe vordergründig politisch-ideologische Erziehungsziele verfolgt, dann ist grundsätzlich zu bemerken,
daß jedes gesellschaftliche System und dessen Bildungswesen von solchen Prämissen ausgehen. Es kommt nur darauf an, ob es sich um humanistische, demokratische Anliegen handelt oder nicht. Auch geht es darum, ob die gestellten Ziele realitätsbezogene Orientierungen vermitteln.
Dabei sollten wir uns auch der Grenzen von Bildung und Erziehung durchaus bewußt sein. Die Persönlichkeitsentwicklung ist ein lebenslanger Prozeß, in dem die Schule nicht alles leisten kann.
Es bleibt ein historisches Verdienst, daß die DDR unter schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen ein vorbildliches Bildungssystem hervorgebracht hat. Es vermittelte von der Vorschulerziehung über die Schule bis zu weiterführenden Einrichtungen eine hohe allgemeine und berufliche Qualifikation. Die erste Voraussetzung dafür war die Beseitigung der Bildungsprivilegien und -barrieren nach der Zerschlagung des Hitlerfaschismus. Wenn im Laufe der Zeit Widersprüche und Defizite auftraten, dann ist zu bedenken, daß auch das Bildungswesen Schauplatz einer erbitterten Systemauseinandersetzung war, in der sich die DDR vor enorme Herausforderungen gestellt sah. Es sei hier nur an Abwerbung und Republikflucht vieler hochqualifizierter pädagogischer Fachkräfte erinnert. Die von der DDR aufgewendeten Ausbildungskosten blieben der BRD zu einem großen Teil erspart, ganz zu schweigen von dem verursachten politischen Schaden.
Im Prozeß der antifaschistisch-demokratischen Umwälzung ging es zunächst darum, das nazistische „Bildungswesen" restlos zu zerschlagen und eine neue demokratische Schule für alle aufzubauen. Da die meisten Lehrer Mitglied der NSDAP gewesen und durch deren Ideologie geprägt waren, galt es, aufgeschlossene junge Menschen für diesen Beruf zu gewinnen.
1945 wurden zu 80 % Neulehrer eingesetzt, die eine Schnellausbildung von nur wenigen Wochen durchlaufen hatten. Sie mußten sich neben ihrer beruflichen Tätigkeit jahrelang weiterqualifizieren.
Die Grundlage einer Schulreform bildete das im Mai/Juni 1946 von den Ländern der sowjetischen Besatzungszone verabschiedete Gesetz zur Demokratisierung der deutschen Schule. Danach wurde die einheitliche achtjährige Grundschule mit einem differenzierten Fachunterricht ab der fünften Klasse und einer Fremdsprache sowie einem Kern- und Kursunterricht in den 7. und 8. Klassen eingeführt.
Die Rückständigkeit des Landschulwesens, der Einklassenschulen und des Mehrklassenunterrichts konnte bis 1959 schrittweise überwunden werden. Die im Gesetz verankerten Grundsätze Einheitlichkeit, Staatlichkeit und Wissenschaftlichkeit wurden konsequent verwirklicht.
Weitere entscheidende Schritte auf diesem Gebiet waren das 1959
beschlossene „Gesetz über die sozialistische Entwicklung des Bildungswesens in der DDR" und das 1965 beschlossene „Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem". Im Verlauf der 70er Jahre wurde die zehnklassige allgemeinbildende Polytechnische Oberschule (POS) überall eingeführt. Der Übergang nach der 8. Klasse zur 12klassigen Erweiterten Oberschule (EOS) erfolgte bis in die 80er Jahre.
Unterricht und produktive Arbeit
Von grundlegender Bedeutung für die inhaltliche Neugestaltung der Allgemeinbildung war die Einführung des polytechnischen Unterrichts einschließlich praktischer Tätigkeit älterer Schüler in Betrieben. Damit wurde das Prinzip von Unterricht und produktiver Arbeit realisiert.
Ab Ende der 80er Jahre schuf man in der DDR für die POS wie für die EOS neue Lehrplanwerke. Grundlegende Bedeutung hatte eine stärkere Hinwendung zur Individualitätsentfaltung der Lernenden. Eine positive Rolle spielte dabei die differenzierte Unterrichtsgestaltung und die Einführung wahlweiser Möglichkeiten.
Schon seit Mitte der 80er Jahre war dem Ruf nach weiterer Differenzierung dadurch nachgekommen worden, daß sich die Zahl fakultativer Kurse in den Klassen neun und zehn auf 22 erhöhte. Das Profil wurde stärker im Sinne eines projektorientierten Unterrichts verändert. Fragen von Wissenschaft und Technik, des Umweltschutzes, der Landeskultur, der bildenden Kunst sowie praktisch orientierte Kurse (Kraftfahrzeugtechnik, Kochen, Servieren,
Nähen, Maschinelles Stricken) fanden Aufnahme in die Rahmenprogramme.
Den Lehrern wurden in ihren Fächern größere Spielräume eröffnet. So führte man frei verfügbare Stunden ein. Beispielsweise wurden im Fach Staatsbürgerkunde wegen des starken Bedürfnisses nach Debatte und Information fünf Stunden für aktuelle Probleme extra eingeplant. Um mit den Schülern sie bewegende Fragen intensiver diskutieren zu können, erhöhten nicht wenige Lehrer in ihrer Unterrichtspraxis diese Stundenzahl um ein Mehrfaches.
Für die Einführung differenzierter Formen der Bildung und Erziehung war nicht allein das jeweilige Rahmenprogramm entscheidend, sondern in besonderem Maße auch die Persönlichkeit des Erziehenden. Da im Unterricht die Interessen- und Erfahrungswelt der Schüler unmittelbar berührt wurde, boten sich mannigfache Ansatzpunkte für Selbsttätigkeit
und Selbstentfaltung der Lernenden.
In den letzten Jahren der DDR wurde verstärkt betont, daß der gesamte Organismus der Schule – anspruchsvolle unterrichtliche wie außerunterrichtliche Tätigkeit, das Wirken der Jugend- und der Kinderorganisation, die Wechselbeziehungen zwischen Lehrenden und Lernenden sowie unter den Lehrenden selbst – in seiner erzieherischen Effizienz vom Mitwirkungsniveau der Schüler an der Führung und Gestaltung des Schullebens abhängig ist.
Dieser hohe Anspruch geriet allerdings oft in Gegensatz zu Erlebtem und den realen Möglichkeiten an den jeweiligenSchulen.
Kritik an Stereotypen
In Erkenntnis der Tatsache, daß der oft formale und eingeschliffene Stil des
Jugendverbandes nicht mehr griff, wurde die Einführung von Schülerselbstverwaltungen als Ausdruck eines demokratischen Schullebens erörtert.
Scharfer Kritik unterzog man das FDJStudienjahr, dessen Thematik recht abgehoben und dessen Durchführung oft langatmig waren. Darüber konnten auch Massenveranstaltungen, die bei vielen Jugendlichen auf Resonanz stießen, nicht hinwegtäuschen. Die überdimensionale Auswertung von ZK-Plenen und FDJZentralratstagungen kam bei den Lernenden nicht an, da deren soziale Erfahrungen zu wenig Beachtung fanden.
Die Freizeittätigkeit der Jugendlichen wurde häufig als „überorganisiert"
empfunden. In der Praxis gestalteten aber viele FDJ-Gruppen ihre Zusammenkünfte mit eigenen, die Teilnehmer tatsächlich bewegenden Themen.
Wirkungsvoll arbeiteten jene Schulklubs, welche von den Heranwachsenden selbst gestaltet und geleitet wurden, wobei sie eine Lehrkraft lediglich beriet und den Ablauf des Klublebens dezent begleitete. Dort wurden oft brisante Fragen aufgegriffen und Experten als Gesprächspartner gewonnen.
Eine für die Individualitätsentwicklung der Lernenden außerordentlich positive
Rolle spielten eine Vielzahl von Arbeitsgemeinschaften und Zirkeln an Schulen und in Pionierhäusern sowie die Stationen „Junge Touristen", „Junge Naturforscher" und „Junge Techniker", wo jegliche „Verschulung" unterblieb. Hier gab es in hohem Maße Möglichkeiten einer freien Entfaltung der Persönlichkeit bei sinnvoller Freizeitnutzung und Orientierung auf künftige Berufe. Das Leben in den Arbeitsgemeinschaftenverlief so, daß sich die
Schüler mit Freude den sie interessierenden Gegenständen zuwenden konnten.
Jugendstunden zur Vorbereitung auf die Jugendweihe sowie Religionsstunden und andere kirchliche Veranstaltungen außerhalb des Unterrichts entsprachen den differenzierten weltanschaulichen Positionen und Bedürfnissen.
Das politisch- ideologische Anliegen der Jugendweihe, die nicht in die Zuständigkeit des Volksbildungsministeriums fiel, war aufdie Vermittlung humanistischer Werte wie Frieden, Völkerfreundschaft, Solidarität und Verbundenheit mit dem sozialistischen Vaterland gerichtet. Viele Jugendstunden wurden von Müttern und Vätern gestaltet, aber auch durch Künstler, Wissenschaftler, Ingenieure, Ärzte, Facharbeiter und andere geeignete Persönlichkeiten.
Dabei trug man den Wünschen und Interessen der Jugendlichen Rechnung. Angestrebt wurden nachhaltige Eindrücke und Erlebnisse. Die Teilnahme an der Jugendweihe beruhte auf dem Prinzip der Freiwilligkeit.
Der ab November 1989 einsetzende kapitalistische Rückverwandlungsprozeß
führte im Osten zu radikalen Veränderungen, zum Abbruch und zur Zerstörung von Lebensperspektiven und -vorstellungen. Die Biographien vieler Menschen sollten nach dem Willen der „neuen Herren" aus dem Westen auf einmal nichts mehr wert sein. Existenzangst griff um sich. Nicht wenige wurden aus ihrer Bahn geworfen und verloren den Lebensmut.
„Abwicklung" ohne viel Federlesen
Zweifellos brach die DDR auch aufgrund eigener Widersprüche zusammen, wobeiinnere und äußere Faktoren eine Rolle spielten. Ihre echten Errungenschaften und Erfahrungen aber konnten in der diametral entgegengesetzten kapitalistischen Gesellschaftsordnung nicht positiv aufgehoben werden. Man beseitigte und ignorierte sie einfach.
Unter dem, was man ohne viel Federlesen „abwickelte", befand sich auch das international anerkannte und entsprechend bewertete Bildungssystem der DDR, das Gerechtigkeit und Chancengleichheit für alle auf hohem Niveau gesichert hatte. Bei ihm stand die Förderung von Begabungen und Talenten im Vorder-grund. Finnische und schwedische Experten kamen damals in die DDR, um aus dem dort Erfahrenen wertvolle Anregungen für ihre eigene Arbeit zu erhalten.
Tatsächlich wurde so manches auf dem Gebiet der Volksbildung abgeschaut
und übernommen. Das längere gemeinsame Lernen der Schüler, die Ganztagserziehung, die Frühförderung und Betreuung im Kindergarten sind heute in der BRD vieldiskutierte Themen. In der DDR hatte man diese Probleme längst gelöst. Ihr politisches System bot dafür ausgezeichnete Rahmenbedingungen.
Die einstigen Bürger der DDR, nicht zuletzt auch ihre Pädagogen und
Erziehungswissenschaftler, können mit Stolz auf jene Ergebnisse blicken,
die sie auf seiner Grundlage erreicht haben.
Doch Abbau und Vernichtung gehen weiter. So wird sich die Bildungsmisere der BRD noch mehr vertiefen. Da lohnt es sich schon, bei der Suche nach Lösungs-ansätzen unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen an die Erfahrungen des Bildungssystems der DDR zu erinnern.
Ich gestatte mir, meinen Leserbrief aus dem "RotFuchs" vom Dezember 2010 zu Horst Adams Aufsatz aus der Extra-Ausgabe vom Oktober 2010 hier wiederzugeben:
AntwortenLöschen"Für den Leitartikel in der Oktoberausgabe finde ich
kaum Worte, denn er ist in Einheit mit dem Inhalt
von solcher Sprachbrillanz, daß es seelisch wie
geistig ein Hochgenuß war, ihn zu lesen.
Probleme habe ich hingegen mit dem Extra-Beitrag
von Dr. Horst Adam in derselben Ausgabe. Der Autor,
der unsere Volksbildung zu Recht würdigt, macht
es sich m. E. etwas zu leicht, wenn er ideologische
Probleme auf Kosten des FDJ-Studienjahres zu lösen sucht. Wie oft habe ich es erlebt, daß Schüler
im Zirkel die Weltfremdheit des Staatsbürgerkunde-
oder Geschichtsunterrichts bemängelten
und sich nur um der Zensur willen zwiespältig an
das anpaßten, was vom Lehrer gewünscht wurde.
Das FDJ-Studienjahr konzipierten u. a. hervorragende
Wissenschaftler wie Prof. Erich Hahn. Die
Umsetzung bei der Schuljugend war allerdings
Sache von FDJ und Volksbildung einschließlich
der Patenbetriebe. Natürlich hätte man vieles
besser machen können. Doch die FDJ konnte nur
so gut sein, wie Schule, Elternhaus und Betrieb
die Voraussetzungen dafür schufen.
E. Rasmus, Berlin"